Kurztrip Teil II. Ich will sehr sehr gern noch mal an die Ostsee sagt die Mutti. Also machen wir es dieses Frühjahr sage ich. Denn manche Ideen sollte man, nicht nur mit Blick auf das Alter, einfach zügig umsetzen. Ohne groß zu diskutieren.
Und so sind wir an Himmelfahrt unterwegs nach Misdroy, ein verlängertes Wochenende plus Brückentag. Usedom links weg mag auch okay sein, aber der Flaschenhals Peenebrücke in Wolgast ist ziemlich uncool mit hoher Stauwahrscheinlichkeit. Wobei die Brücke selber ja okay ist, aber die Stauzeiten davor halt nerven.
Und – das ist letztlich entscheidend – den Weg nach Misdroy können wir über Prenzlau legen und damit Henni + Helmut besuchen. Mag sein, oder vielleicht ist es wahrscheinlich, dass wir uns nach über 30 Jahren wiedergesehen haben und uns live nicht noch einmal wieder sehen werden.
Die Herzlichkeit von Henni + Helmut ist unverändert, es ist eine Freude und sofort sind viele viele Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse, spannende Zeltplätze, gemeinsame Ausflüge da. Leider ist die Zeit in Prenzlau zu kurz, Megastaus auf der A10…
Misdroy (Międzyzdroje) war ein kleines Fischerdorf, ehe es im 19. Jhdt. zu einem beliebten Badeort wurde. Wie viele weitere Ostseestädte. Die Bäderarchitektur in den verschiedenen Städten ist sichtbares Zeugnis. Und so wird auch Misdroy zu einem populären Urlaubsziel.
Unser Hotel ist unweit des Strandes, das Frühstück am ersten Tag irritiert nachhaltig, aber es pendelt sich ein. Es zählt ja, was man mit den Zimmern anfangen kann/will und die haben beide schick Balkon, den wir auch nutzen für abendlichen Wein.
Viel Zeit ist dem Strand und den durchaus beachtlichen Steilküsten hier vorbehalten, Entspannung pur. Stundenlang, auch wenn der Sand manchmal recht tief kann und es nicht nur schlichte Spaziergänge sind. Und insbesondere die Sonnenuntergänge entfalten ihre ganze Begeisterungsbreite, hervorragend. Vor allem sind die Strände angenehm leer, obwohl mit Christi Himmelfahrt ein ultralanges Wochenende ist.
Weiteres Highlight in Misdroy ist das Oceanarium Międzyzdroje mit Clownfischen, Piranhas usw., das ist in der Verlängerung der Seebrücke und einer Strandpromenade, die sehr entspannt und modern daherkommt, aber gar nicht erst versucht, schicker und mondäner zu wirken als sie ist, was ich sehr cool und angenehm finde. Ohnehin empfinden wir Misdroy als sehr angenehm und unaufgeregt, nicht jede Ecke ist durchrenoviert, nicht jede Ecke durchchoreografiert, nicht jede Ecke durchmodernisiert, es gibt noch ungerade Bordsteinkanten und unebene Straßen. Wie schön.
Hübsch auch der Baltische Miniaturpark mit nachgebauten Highlights der nördlichen Länder, allerdings reicht’s auch nicht für mehr als eine Stunde und dafür müssen wir uns schon anstrengen. Aber ohne die Miniaturgebäude wären wir auch nicht auf die Kirchenruine Hoff aufmerksam geworden, der Besuch hat sich also gelohnt.
Denn natürlich, einmal neugierig geworden, fahren wir sofort hin und freuen uns während der Fahrt, dass der etwas trübe, bedeckte Himmel aufreißt und wir die Ruine, den Ort und den Strand bei bestem Sonnenschein erleben dürfen.
Im 15. Jahrhundert wird die Kirche im Abstand von 2 km von der Ostsee gebaut. 1750 ist der Abstand wohl nur noch bei 58 m und bereits 1771 erreicht die Ostsee den Friedhof der Kirche. Der letzte Gottesdienst soll am 02.08.1874 stattgefunden haben, ehe sich um 1900 die Ostsee erste Teile der Kirche holt.
Seit 2001 wird das Kliff unterhalb der Kirche geschützt, ab 2008 gibt es die Seebrücke, die die ganze Ecke hier zusätzlich aufwertet. Auch hier ein schicker Ostseestrand – mit Möwen, Kormoranen usw.
Einen abschließenden Tages-Abstecher gönnen wir uns nach Peenemünde, die Fahrt wird interessant, denn bis wir über die Swine sind vergeht deutlich mehr Zeit als gedacht. Soll alles anders werden, ein Tunnel ist wohl im Bau oder nun mittlerweile eröffnet. Wie auch immer, Peenemünde ist die Kombination aus Erkunden von Überresten und Museum und so ganz wird man diese Widersprüche aus Technikfaszination und Vernichtungswaffen, Nähe zur Siedlung und KZ, Ostseeidylle und Nazihybris nie auflösen können. Beeindruckend und krass.
1936 beginnen hier die Bauarbeiten, massenhaft Zwangsarbeiter werden eingesetzt, zeitweise mehr als 4.000 Zwangsarbeiter gleichzeitig. Nach vier Jahren stehen ein Kraftwerk, eine Sauerstofffabrik, riesige Montagehallen, mehr als ein Dutzend Prüfstände und ein eigenes Werkbahnnetz. Über 106 km Gleise werden verlegt.
Es soll eine Vernichtungswaffe, die von Hitler so angepriesene „Wunderwaffe“ entstehen. Anfängliche Begeisterung, als am 8. September 1944 die erste A4 in London einschlägt, hält indes nicht lange, die erhoffte militärische Wende stellt sich natürlich nicht ein, dazu sind die Raketen technisch nicht ausgereift. Trotzdem hält Propagandaminister Goebbels an seiner Idee, die A4 in V2, „Vergeltungswaffe“ umzutaufen, fest. Noch im Januar 1945 spricht Hitler vom möglichen „Endsieg“, auch durch die „Wunderwaffen“.
Hauptsächlich sterben durch die A4-Raketen Zivilisten, mehr als 8.000 insgesamt, 29.000 Häuser werden zerstört, über 1,2 Millionen beschädigt. Soviel zum militär-strategischen Wert der Waffen. Letztlich sterben weit mehr als doppelt so viele Zwangsarbeiter.
Die Royal Air Force bombardiert Peenemünde beginnend im August 1943. Im August 1943 errichtet die SS nördlich von Nordhausen das KZ Mittelbau. Es ist eines der Lager, welches im Zuge verstärkter Untertageverlagerung der deutschen Rüstungsindustrie errichtet wird, quasi der letzte Versuch, einen Krieg zu retten, der nach Stalingrad verloren ist.
Für den Stollenvortrieb werden vor allem Häftlinge eingesetzt, gleichzeitig für die Produktion der V2 bzw. V1. Halbwegs menschenwürdige Häftlingsunterkünfte gibt es kaum, in der Regel werden die Häftlinge in den Stollen zusammengepfercht, in den Stollen, in denen sie tagsüber mit Sprengungen den Stollenvortrieb vorantrieben müssen. Das sind die Arbeitsbedingungen – in den Stollen eh schlechte Luft – durch Sprengungen bis ins unerträgliche verdichtet – um dann des Nachts in genau dieser Luft dicht an dicht in so etwas ähnliches wie Schlaf zu kommen. Bis zum Ende werden die meisten Häftlinge beim Stollenbau eingesetzt, nicht in der Produktion.
Am 4. Mai besetzt die Rote Armee weitestgehend kampflos Peenemünde. Knapp ein Viertel der Anlagen ist unbeschädigt. Entsprechend alliierter Vereinbarungen zerstört die Rote Armee die Anlagen nach eigenen Raketen-Testreihen. Die Anlage selber bleibt in militärischer Hand, erst die Rote Armee, später folgen Seepolizei und Nationale Volksarmee.
Später arbeiten in den USA unzählige Wissenschaftler aus Peenemünde um Wernher von Braun am Weltraumprogramm der NASA mit, das 1969 zur Mondlandung führt. Kontinuitäten.
Eine Nachwendenutzung scheitert vor allem an den Kosten für die Munitionsbeseitigung in dem riesigen Areal. So holt sich die Natur das immer noch als Sperrgebiet gekennzeichnete Gelände zurück.
Einmal noch Essen im Hotel/Restaurant Villa Stella Maris, wo es schlicht am besten schmeckt, insbesondere die Gambas.