Ein paar Tage Urlaub noch im Herbst. Das ursprüngliche Ziel Oman ist Corona zum Opfer gefallen. Ein wenig improvisieren muss ich schon, die Infektionszahlen steigen wieder, aber ich will halt noch mal raus.
Sonntag beginnt der Kurzurlaub mit der Fahrt nach Eisenhüttenstadt. Schon lange habe ich die Stadt auf der Liste, eine sozialistischen Planstadt par excellence am östlichsten Rande der Republik. Gewissermaßen um die Hüttenwerke herum geplant und gebaut.
Eisenhüttenstadt wird in direkter Nachbarschaft zu Fürstenberg (Oder) gebaut, dem schon im 13. Jhdt. gegründeten Ort. 1953 zum 70sten Todestag von Karl Marx soll die Stadt seinen Namen erhalten, doch dann stirbt am 5.3.1953 Stalin. Und zu der Zeit ist Stalin ja noch der geliebte Führer der Sowjetunion. Also heißt die erst ab 1950/51 errichtete Stadt fortan Stalinstadt. Am 7. Mai 1953 betont Walter Ulbricht in seiner Rede noch die Bedeutung von Stalin: „Der weise Stalin, der große Baumeister des Sozialismus, lehrte uns, dass wir besondere Aufmerksamkeit richten sollen auf die Entwicklung der Städte. […] Damit diese Städte zu wirklichen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zentren des Lebens werden.“ Quelle
Aber das hat sich im Zuge der Entstalinisierung dann bald erledigt. 1961 wachsen Stalinstadt, Fürstenberg und Schönfließ zusammen und werden zu Eisenhüttenstadt, für Stalin gibt es erst einmal keine Verwendung mehr. Es ist der 13. November 1961.
Für Karl Marx lässt sich dann auch noch etwas finden, Chemnitz wird am 10. Mai 1953, drei Tage nach Stalinstadt, einfach kurzerhand in Karl-Marx-Stadt umbenannt.
Eisenhüttenstadt ist eine Planstadt von der ersten Sekunde an. Auf dem III. SED-Parteitag 1950 wird der Bau des Eisenhüttenkombinats Ost (EKO) zusammen mit einer sozialistischen Wohnstadt beschlossen. Entstehen wird beides bei Fürstenberg (Oder).
Der Grundstein für den ersten Hochofen wird am 1. Januar 1951 gelegt, schon am 19. September 1951 nimmt er den Betrieb auf. Fünf weitere Hochöfen folgen. Die Einwohnerzahl steigt rasch: 1953 sind es 2.400, 1965 bereits 38.138, 1975 dann 47.414.
Sozialistische Planstadt: bestimmte städtebauliche Vorstellungen in den Städten der Sowjetunion sowie des Ostblocks, die die Verbindung von Städtebau und politisch-gesellschaftlichen Ideen meinen und anstreben.
Es ist die erste komplett am Reißbrett entworfene, durchgeplante und organisierte Stadt der DDR und sollte so etwas wie die Idealstadt in der DDR werden: Arbeit und Wohnkomfort verbinden sich mit sozialistischer Lebensqualität zu einem politisch-kulturellen Gemeinwesen. Es ist eine Idee des sozialistischen Städtebaus der 50er/60er Jahre. Federführend hier ist Kurt W. Leucht, der vier Wohnkomplexe mit Zentrum und Einrichtungen des Gemeinbedarfs plant, also eine konsequente Umsetzung der Idealvorstellungen. Ideelle Anleihen werden selbstverständlich bei verschiedenen Sowjetstädten genommen, aber auch bei den neu geplanten Arbeiterstädten Nowa Huta (1953-1956 Stalinogród) in Polen und Dunaújváros (1951 bis 1961 Sztálinváros) in Ungarn.
„Ihre städtebauliche Bedeutung ergibt sich aus dem durchstrukturierten und auf die Bedürfnisse der Bewohner eingehenden Gesamtkonzept. Achsenbezüge zum Eisenhüttenwerk und den einzelnen Wohngebieten mit stadtbildprägenden Dominanten, sozialen und kulturellen Einrichtungen, verbunden mit einem durchdachten Versorgungs- und Verkehrssystem lassen die Stadt zu einem Novum werden.“ Quelle
Auch die Gestaltung der Grün- und Freiflächen passt sich in die harmonische Gesamtplanung ein. Und natürlich darf ein riesiger Gedenkplatz nicht fehlen.
Später wird das Werk weiter ausgebaut, die Einwohnerzahl steigt, der Spitzenwert 1988 mit 53.048. Danach leichtes Abflauen, aber der richtige Knick kommt dann nach der Wende, na klar. 1990 noch 50.216, 2005 dann nur noch 34.818 und 2019 sind es noch 23.878 Einwohner. Heute steht Eisenhüttenstadt unter Flächendenkmalschutz und feierte kürzlich den 70sten Geburtstag.
Das Friedrich-Wolf-Theater folgt dem Gestaltungsanspruch an Kulturbauten der DDR in 1950er Jahren, steht an der Lindenallee, geplant als Haupt- und Geschäftsstraße und liegt in Achse zum 90 Meter hohen Hochofen des Eisenhüttenwerkes.
Gerade im Wohnkomplex II finden sich die klassizistischen Einflüsse überdeutlich, das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR folgt diesem klassizistischen Impetus. Früher war es ein Kindergarten, in direkter Nähe zur Schule und zu den Wohnkomplexen. Gleiche Formensprache bei der einstigen Oberschule III.
Montag geht’s weiter in den Norden, direkt nach Koserow auf der Insel Usedom. Das Hotel verleiht Fahrräder, bestens. Dementsprechend leihe ich mir eines, um am ersten Tag nach Heringsdorf zu radeln. Irgendwie dachte ich, so bissel an der Ostsee entlang radeln, das wird bestenfalls ein wenig anstrengend durch den Wind, aber denkste, recht hügelig hier. Paar Höhenmeter kommen zusammen und paar Steigungen sind schon echt krass. Eine kleine Herausforderung. In den Strandbädern Bansin und Heringsdorf ist relativ wenig los, ich bin natürlich nicht mehr in der Saison unterwegs, im Sommer war das sicherlich trotz Corona anders.
Schönes Wetter an der Seebrücke, nette Bäderarchitektur. Zurück geht es wieder entlang der ganzen Wohnwagen und Bungalows, manche wirken schon etwas skurril an, so befestigt wie sie sind, zusätzlich mit einer Garage fürs Auto. Aber gut, Dauercamping ist bekanntlich nicht mein Ding, mich zieht es immer wieder an andere Plätze in andere Länder.
Für den nächsten Tag steht Peenemünde an der Nordspitze der Insel auf dem Plan.
Die Raketenforschung selber ist deutlich älter als die Raketenforschung in Peenemünde, Mythen ranken sich um das Thema. Hier geht es um technischen Größenwahn, um den Versuch der Nazis, den II. Weltkrieg irgendwie noch zu gewinnen. Mit den sogenannten Vergeltungswaffen. Raketenforschungen aus den 20er Jahren werden fortgeführt. Das Forschungsbudget ist enorm, Zwangsarbeiter werden immer wieder nachgeführt, in geringer Entfernung von der Forschungsstation wird ein KZ errichtet. Für ein derartiges Vorhaben ist der Standort geradezu ideal. Abgelegen ist es, großflächig, menschenleer und unverbaut.
1936 beginnen die Bauarbeiten, massenhaft Zwangsarbeiter werden eingesetzt, zeitweise mehr als 4.000 Zwangsarbeiter gleichzeitig. Nach vier Jahren stehen ein Kraftwerk, eine Sauerstofffabrik, riesige Montagehallen, mehr als ein Dutzend Prüfstände und ein eigenes Werkbahnnetz. Über 106 km Gleise werden verlegt.
Der Mythos von Forschergeist und Technikgläubigkeit wird zwar immer noch gern mal wieder erzählt, aber ganz klar, in Peenemünde wird Rüstungsforschung und –entwicklung betrieben, die Vorläufer sind lediglich Mittel zum Zweck und natürlich sind Wernher von Braun & Co. entsprechend verantwortlich. Es soll eine Vernichtungswaffe, die von Hitler so angepriesene „Wunderwaffe“ entstehen.
Anfängliche Begeisterung, als am 8. September 1944 die erste A4 in London einschlägt, hält indes nicht lange, die erhoffte militärische Wende stellt sich natürlich nicht ein, dazu sind die Raketen technisch nicht ausgereift. Trotzdem hält Propagandaminister Goebbels an seiner Idee, die A4 in V2, „Vergeltungswaffe“ umzutaufen, fest. Noch im Januar 1945 spricht Hitler vom möglichen „Endsieg“, auch durch die „Wunderwaffen“.
Hauptsächlich sterben durch die A4-Raketen Zivilisten, mehr als 8.000 insgesamt, 29.000 Häuser werden zerstört, über 1,2 Millionen beschädigt. Soviel zum militär-strategischen Wert der Waffen. Letztlich sterben weit mehr als doppelt so viele Zwangsarbeiter. 20.000 Zwangsarbeiter sterben bei der Produktion in Rüstungsfabriken wie dem Wolfsburger Volkswagenwerk und dem unterirdischen Mittelwerk im Harz. 60.000 Zwangsarbeiter sind bis Kriegsende im KZ Mittelbau-Dora unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert, mindestens 20.000 kommen zu Tode.
Die Royal Air Force bombardiert Peenemünde beginnend im August 1943. Im August 1943 errichtet die SS nördlich von Nordhausen das KZ Mittelbau. Es ist eines der Lager, welches im Zuge verstärkter Untertageverlagerung der deutschen Rüstungsindustrie errichtet wird, quasi der letzte Versuch, einen Krieg zu retten, der nach Stalingrad verloren ist.
Für den Stollenvortrieb werden vor allem Häftlinge eingesetzt, gleichzeitig für die Produktion der V 2 bzw. V1. Halbwegs menschenwürdige Häftlingsunterkünfte gibt es kaum, in der Regel werden die Häftlinge in den Stollen zusammengepfercht, in den Stollen, in denen sie tagsüber mit Sprengungen den Stollenvortrieb vorantrieben müssen. Das sind die Arbeitsbedingungen – in den Stollen eh schlechte Luft – durch Sprengungen bis ins unerträgliche verdichtet – und dann des Nachts in genau dieser Luft dicht an dicht in so etwas ähnliches wie Schlaf zu kommen. Bis zum Ende werden die meisten Häftlinge beim Stollenbau eingesetzt, nicht in der Produktion.
Am 4. Mai besetzt die Rote Armee weitestgehend kampflos Peenemünde. Knapp ein Viertel der Anlagen ist unbeschädigt. Entsprechend alliierter Vereinbarungen zerstört die Rote Armee die Anlagen nach eigenen Raketen-Testreihen. Die Anlage selber bleibt in militärischer Hand, erst die Rote Armee, später folgen Seepolizei und Nationale Volksarmee.
Später arbeiten in den USA unzählige Wissenschaftler aus Peenemünde um Wernher von Braun am Weltraumprogramm der NASA mit, das 1969 zur Mondlandung führt. Kontinuitäten.
Eine Nachwendenutzung scheitert vor allem an den Kosten für die Munitionsbeseitigung in dem riesigen Areal. So holt sich die Natur das immer noch als Sperrgebiet gekennzeichnete Gelände zurück.
Die Fahrradtour nach Peenemünde ist also eher eine Tour entlang von Überresten, die auch im Wald zu finden sind. Rampen, Eisenbahn- und Versorgungstrassen, ehemalige Funktionsgebäude und eben Peenemünde selbst mit umfassender Dokumentation und Ausstellung.
Stark hierzu: Rainer Eisfeld: Mondsüchtig. Wernher von Braun und die Geburt der Raumfahrt aus dem Geist der Barbarei. Zu Klampen Verlag, Springe 2012, ISBN 978-3-86674-167-6.
Einen Tag später ist das Wetter reichlich mies, aber den ganzen Tag nur am Strand von Koserow herumlaufen will ich auch nicht. Ich schnappe mir das Fahrrad und fahre rüber nach Trassenheide in die Schmetterlingsfarm. Nette Exemplare flattern hier rum.
Der Rückweg zieht sich erst einmal, es dauert zwei Stunden, um von der Insel herunter zu kommen, die Peenebrücke in Wolgast ist das absolute Nadelöhr. Irgendwann ist das überstanden und ich nehme Kurs auf Greifswald, Imke einen Kurzbesuch abstatten.
Kloster Eldena liegt auf dem Weg, eine traumhafte Kirchenruine. Eldena wird 1199 als Zisterzienserkloster gegründet. Im Mittelalter das bedeutendste Kloster der Region, vom 13. bis 15. Jhdt. ausgebaut und ausgestaltet, besteht das Kloster bis zur Reformation 1533, verliert aber genau in dieser Zeit seine Bedeutung und verfällt in der Folgezeit.
Ab 1827 wird das Ruinengelände im Sinne der Romantik konservatorisch gesichert, gleichzeitig wird das Ruinengelände gestaltet, zeitgenössische Ideen kommen hier zum Tragen. Caspar David Friedrichs rückte mit seinen Gemälden die Ruine wieder in den Mittelpunkt des Interesses. Eldena ist sein Hauptmotiv. Der Sohn der Stadt inspiriert Architekten, Denkmalpfleger und Gartengestalter. Heute ist Eldena eine überregionale Topadresse und definitiv ein Highlight auf der Europäischen Route der Backsteingotik.
Update Winter 2020/21: Ein außergewöhnlich schneereicher Winter beschert mir diese Winterbilder. Vielen Dank an Imke für die Bilder:-)
Greifswald ist ein nettes kleines Hansestädtchen, die Highlights liegen eng beieinander, so bleibt noch viel Zeit zum Erzählen beim Italiener. Ich denke, das Studium wird sehr gut laufen, die Stadt bietet beste Voraussetzungen wie ich finde.
Bis Braunschweig sind es noch gute vier Stunden, in Schwerin mache ich noch eine kurze Pause am Schloss, gesehen hab ich die Perle an den sieben Seen und Wäldern vor ein paar Jahren, das muss in diesem Falle reichen, denn es ist schon recht finster. Aber das Schloss ist ja ganz schick beleuchtet. Das letzte Highlight der Tour, ein paar Stunden später in BS ist sie zu Ende.