Das Stilfser Joch oder Passo del Stelvio – die Referenzgröße. Für alle Alpenpässe. Absolute Faszination.
Freitags geht’s hin. Die Faszination beginnt spätestens in Spondinig im Vinschgau auf knapp 900 Metern Höhe. Atemberaubende 48 Kehren und 1.900 Höhenmeter später bin ich auf der Passhöhe. 2.757 Meter sind es nun, der Weg rauf fordert das Auto, fordert die Konzentration. Aber nach dem atemberaubenden Weg ist der Lohn nun eine atemberaubende Aussicht.
Drei Mal atemberaubend in einem Abschnitt? Keineswegs zu viel – der Pass ist schön, der Pass ist rasant, der Pass ist berauschend, kurzum: der Pass ist atemberaubend. Und er macht Spaß. Das war schon 1900 so, als die ersten Autos ihre Bergtauglichkeit zeigen wollten und das ist heute noch so. Die Leistungsfähigkeit der Autos ist heut nicht mehr das Thema, aber es ist definitiv einer der Berge, die jeden Radsportprofi sowieso, aber auch jeden ambitionierten Radfahrer reizt und herausfordert. Spätestens seit Fausto Coppi, so sagen die Legenden.
Seit 1953 führt der Giro d‘Italia regelmäßig über den Stelvio. Und gleich beim ersten Mal holt sich eben jener Coppi in einem legendären Schlussspurt am Passo den Sieg. Von einem unvergesslichen Bergsprint ist zu lesen.
Wie auch immer, wer diesen Pass als Radfahrer bezwingt, hat meinen größten Respekt – egal ob er ihn nun im Sprint heraufeilt oder sich Kehre für Kehre heraufquält und ggf. eine Pause einlegt, weil der Passo so unfassbar steil und lang ist und seinen Tribut und seine Pausen fordert.
Hier oben angekommen bin ich erstmal bissel irritiert von der Jahrmarktatmosphäre, die ich so nicht erwartet habe, aber der Pass ist ein Ziel und Treffpunkt für viele Biker, die sich austauschen, das eine oder andere einkaufen an den Ständen, einen kleinen Snack an den Würstelständen mitnehmen und dann hinabwedeln. Wenige bleiben hier oben. Also von den Bikern jetzt.
Paar Wintersportler sind hier oben, die sich auf die Hotels verteilen, ganz wenig Touristen, die hier oben übernachten, Fahrradfahrer vielleicht. So meine Wahrnehmung. Es ist halt eigentlich eine für den Winter attraktive Region mit dem ganzen Wintersportgedöns. Ich bin im Sommer hier, was ich auch gut finde, weil ich meine Ruhe habe, hier ungestört wandern kann und Ski fahren will ich eh nicht.
Gewandert wird dann am Samstag. Ich merke schnell, dass es hier nicht ganz so schnell vorangeht. Voller Tatendrang, aber die Höhe lässt meine Geschwindigkeit nicht zu. Die Luft ist halt deutlich dünner, was ich recht fix merke, ich brauche eine Zeit, um mich daran zu gewöhnen, danach habe ich an den Wanderwegen, vor allem aber an den Panorama-Blicken hier richtig Freude.
Der Weg ist sehr historisch, die Ecke hier ist sehr historisch. Fast 200 Jahre alt ist der Pass, die Streckenführung ist von Beginn an unverändert. 1820 beginnt der Bau als Militärstraße für das Habsburgische Kaiserreich. 1848 wird das Stilfser Joch zum Grenzpass und nach dem Ersten Weltkrieg fällt das Joch an Italien.
Die ideale Streckenführung wird schon Jahre zuvor diskutiert und definiert. Nicht mehr nur eine einfache Handelsverbindung soll es sein, nun sollen auch Kutschen und Kanonenkarren den Pass überqueren können. Maximale Steigung 9,78 %, Straßenbreite mindestens 5,5 Meter, vorgegebene Kurvenradien. So kommen am Ende 48 Kehren zusammen. Und jede hat einen eigenen Namen.
Unmittelbar mit der Fertigstellung setzen militärische und touristische Nutzung gleichermaßen ein. Und spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts spielt das Joch auch eine immer größere Rolle im aufkommenden Alpentourismus. Bessere Straßen und Zugverbindungen, eine Vielzahl von Gasthöfen – die Alpen erleben einen Tourismus-Boom. Gleichzeitig werden die Berge, einst gefürchtet, bewundert und romantisiert. Hier oben ist es der Ortler.
1897 bis 1910 wird die Passstraße ausgebaut und zieht hernach die Automobiltouristen magisch an. Rennen werden gefahren, der Pass wird zum Inbegriff der Herausforderung für Mensch und Maschine. Im doppelten Sinne: Pferdekutschen geraten in Bedrängnis, es gibt Unfälle – und die Maschinen selbst sind auch noch nicht so leistungsfähig, so dass der eine oder andere Motor bei der Passbefahrung an seine Grenzen kommt.
Bis 1914. Der Erste Weltkrieg rückt das Joch in das Interessenfeld der Großmächte Österreich-Ungarn und Italien. Handel und Tourismus weichen einem verlustreichen Stellungskrieg, noch heute sind die Spuren hier oben zu sehen. Nach dem Krieg gehört das Joch zu Italien.
Bald nimmt der Tourismus wieder Fahrt auf. Bis der Zweite Weltkrieg die Zeit wieder auf null stellt, die Ereignisse ähneln denen des Ersten Weltkrieges. Kampfhandlungen, besetzte Hotels, Zerstörungen, Tote.
Und wieder lässt nach dem Krieg der Tourismus nicht lange auf sich warten. Und es werden Auto-, Motorrad- und – wie oben erwähnt – Fahrradrennen veranstaltet. Der Pass wird zur ultimativen Herausforderung aller Radrennfahrer.
Das Wochenende wird abgerundet mit einem Zwischenstopp am Reschensee. Im Reschensee wird das Wasser der Etsch, des Rojenbachs und des Karlinbachs gestaut. Sechs km lang ist er. Bis zur Seestauung 1950 gibt es am Reschenpass drei Seen: Reschensee, Mittersee und Haidersee. Bei der Seestauung werden das gesamte Dorf Graun und ein Großteil des Dorfes Reschen versenkt. Insgesamt 163 Häuser. Wahrzeichen ist der aus dem Reschensee ragende Kirchturm vom versunkenen Alt-Graun.
Erste Studien werden 1911 erstellt, in den 30er folgen Enteignungen, eben weil klar ist, dass die Orte Graun vollständig und Reschen zum Teil aufgegeben werden müssen. Umfassende Proteste verzögern das umstrittene Projekt bis in den Sommer 1950. Dann werden alle Gebäude in Graun und den Weilern von Arlund, Piz, Gorf und Stockerhöfe (St. Valentin) abgetragen und überflutet, genauso wie im betroffenen Teil von Reschen. Einzig der denkmalgeschützte Kirchturm von Graun aus dem 14. Jh. bleibt stehen.
Die Aufstauung hat weitreichende Konsequenzen:
- 70 % der Bevölkerung wandert aus oder ab
- 163 Wohnhäuser bzw. landwirtschaftliche Gebäude werden gesprengt
- 514 ha Kulturfläche sind vernichtet
- der Nutztierbestand in der Region geht um 70 % zurück