Am Ende ging alles ganz schnell. Auch wenn unbezahlter Urlaub die nächste Abrechnung sicher nicht gut aussehen läßt, wollte ich Urlaub und bekam ihn auf den letzten Drücker gewährt. Ein knappes ¾ Jahr Dauernachtschicht mit verbundener wöchentlicher Vertragsverlängerung und dementsprechender Unsicherheit ließen mich urlaubsreif wie lange nicht mehr werden. Und so war die Frage unbezahlt oder nicht keine wirkliche Frage.
Allerdings waren die wunderbare Einladung und das großzügige Sponsoring der Eltern mehr als entscheidend. Und so sitzen vier Leute inklusive Gepäck und Verpflegung in einem gnadenlos vollgepackten Opel Corsa, den wir in den Morgenaufgang hinein gen Rostock steuern, wo die „Huckleberry Finn“ auf uns wartet. Von 8.00 bis 13.30 wird die Ostsee gequert, danach wartet ein durchschnittlich spannender Teil Skånes auf unsere Durchfahrt. Fairerweise sollte allerdings nicht unerwähnt bleiben, daß ich zwischen immer wiederkehrenden Schlafphasen, der Nachtschichtrhythmus kollidierte noch mit dem Tagesrhythmus, wahrscheinlich immer den plattesten und damit weniger interessanten Teil mitbekommen habe.
Wie auch immer: Irgendwann nähren wir uns Småland und erhalten einen Vorgeschmack auf das, was uns in den nächsten Tagen erwarten sollte. So z.B. bei einer Rast am Inaren, der ersten der vielen eiszeitlichen Auswaschungen, von denen uns noch einige begegnen sollten. Bäume und zuweilen durchscheinendes Wasser begleiten die letzten 1 ½ Stunden des Weges nach Vimmerby, von dem wir freilich heute nicht viel sehen wollen, da wir noch zehn Kilometer weiter nach Hägerum müssen. Dort wartet ein wunderschön gelegenes Ferienhäuschen im typischen schwedischen „falu rötfärg“ auf uns.
Mit dem Wissen um noch geplante längere Touren wollen wir den heutigen Tag etwas ruhiger angehen lassen und zunächst Vimmerby und die nähere Gegend erkunden und ehe man sich versieht, stehen wir wieder vor viel eiszeitlichem Wasser. Diesmal ist es der Krön bzw. Kröngarden. Bei so viel Natur setzt die Erholungsphase sehr schnell ein.
Nach dem ausgiebigen Genießen der schwedischen Ruhe geht es weiter nach Djursdala mit der dortigen Holzkirche von 1692 als Zentralziel. Seit ich Anfang der 90er die „Wikinger – Waräger – Normannen“ – Ausstellung des Europarates gesehen hatte, wollte ich immer mal diese nordischen Holzkirchen live sehen. Heute ist es nun so weit und es übertrifft meine Erwartungen. Holz an sich ist schon ein Baustoff, der nicht viel zu wünschen übrig läßt, wenn dann zusätzlich das Umfeld stimmt, erhöht sich die Strahlkraft. Die Kirche in schlichter dunkelbrauner Schönheit, der abseits stehende Glockenturm für uns Mitteleuropäer, die eher massive Steinkirchen vor Augen haben, überraschend, aber ebenfalls faszinierend. Harmonisch abgerundet wird das Bild von dem lichtdurchfluteten sattgrünen Friedhof. Ähnliches Bild in Frödinge. Allerdings ist Frödinge weniger wegen der Kirche bedeutsam, sondern wegen seiner Molkerei bzw. dem „Frödinge Ostkaka“, dem bekanntesten Produkt dieser. Der „Ostkaka“ ist nicht irgendein Käsekuchen, sondern eine Komposition aus Käse, Sahne und Mandeln. Sehr kalorienreich aber auch sehr lecker.
Später dann Vimmerby, der netten kleinen Geburtsstadt von Pippi Langstrumpf respektive Astrid Lindgren. Beide begegnen einem immer wieder. Dennoch ist man hier weit entfernt von überzogenem Merchandising. Abends geht es nach Åtvidaberg. Dort startet um 19.00 das schwedische Zweitliga-Derby zwischen Åtvidabergs FF und dem IFK Norrköping, der Weg dorthin geht durch landschaftlich reizvolle Gegend. Das „Kopparvallen“ in Åtvidaberg wird schnell gefunden, Plätze auf der leicht vibrierenden Stahlrohrtribüne ebenfalls. Hatten wir bisher an diesem Tage Naturromantik und Kirchen, so gibt es hier Fußballromantik vom Feinsten. Das Stadion ist mitten im Wohngebiet und besticht durch eine feine alte Holztribüne. Selbst der Eingangsbereich paßt sich harmonisch in dieses Bild ein. Abgerundet wird der Fußballabend mit einem munteren Derby, in welchem die Jungs aus Norrköping mit einer gelungenen Choreo zu beeindrucken wissen. Das Spiel endet gerechterweise 2:2. Da uns der Hinweg vorbei am Åsunden vorbei gefiel, haben wir keine Veranlassung, einen anderen Weg einzuschlagen.
Nachdem gestern das nördliche Vimmerby-Umland inspiziert wurde, geht es heute in den näheren Westen hart auf den Spuren von Astrid Lindgren. Zum Auftakt wieder eine dieser reizenden Kirchen, diesmal in Pelarne. Der Weg führt weiter nach Bullerbyn, eine kleine Ansammlung von Häusern, bei denen nach dem Abdrehen der Lindgren-Filme die Zeit stehengeblieben ist. Emotional mehr berührt mich allerdings die nächste Station Katthult, Michel hat eben seine Spuren im Gedächtnis hinterlassen. Unweigerlich fühlt man sich nicht nur in der Zeit zurückversetzt, sondern man hat sofort einen ganzen Film an Bildern im Kopf beim Anblick von den Stätten der Michel’schen Streiche. Fehlt nur noch Pippi Langstrumpf. Zuvor aber der Urwald Norra Kvills. Dieses Naturschutzgebiet hält wirklich einige Überraschungen bereit. Klettertouren, umgestürzte Bäume, Gesteinsformationen des ältesten Gebirges der Welt – je nach Wunsch mit oder ohne Moos – und faszinierende Waldseen, deren jeweiliges Umfeld schon sehr stark an Moore erinnert. Eben Urwaldromantik vom Feinsten. Die Wanderung ist dementsprechend nicht nur entspannend, sondern gleichermaßen spannend, auch wenn sich meine botanischen Kenntnisse in deutlich überschaubaren Grenzen halten. Tut aber der Freude keinen Abbruch.
Am nächsten Tag geht es weniger durch dichtbewaldetes Gebiet, sondern schnurgerade an ein paar Seen vorbei zur alten Industrie- und Universitätsstadt Linköpping. Start mit Gamla Linköpping, der spannenden „Altstadt“. Erhaltenswerte Häuser des alten Linköping wurden hier in den 50ern zu einem lebendigem Museumsdorf zusammengefaßt. Dom und Markt des „heutigen“ Linköpping runden den Vormittag ab, bevor es zum Götakanal geht. Spannendes Werk der Technik. Um die Dänenherrschaft zu brechen und eine West-Ost-Querung Schwedens zu ermöglichen, wurde der 1832 Götakanal eröffnet, der allerdings bei seiner Einweihung für diesen Zweck ziemlich überflüssig geworden war. In der Bauzeit von 22 Jahren, ganz zu schweigen von der Planungszeit, waren Pläne zum Bau einer Eisenbahnlinie Göteborg-Stockholm gereift und umgesetzt und damit die Verbindung quer durch Schweden in einem Bruchteil der Zeit möglich.
Was bleibt, ist diese bei Segeltouristen äußert beliebte Wasserstraße und die Stufenschleusen beim Örtchen Berg, spannend für Segeltouristen, Fototouristen, Techniktouristen, Picknick- und Sonnensüchtige gleichermaßen. Es ist und bleibt immer faszinierend, Technik beim Arbeiten zuzusehen, zumindest wenn sie sich dabei so offenbar zeigt. Für den Rückweg nach Vimmerby wählen wir den spannenden und schönen Weg über Åtvidaberg.
Auch wenn es am 22.6. wieder heißt, richtig Kilometer zu fressen, wollen wir uns Öland nicht entgehen lassen. Für uns ist es noch die große Unbekannte, die die besten Klimawerte Schwedens haben soll. Es soll die regenärmste und sonnenreichste Landschaft Schwedens sein. Davon können wir uns nach Überquerung des Kalmarsundes schnell überzeugen. Wir können uns aber gleichermaßen schnell davon überzeugen, daß Öland nicht nur flach, sondern vor allem im südlichen Teil landwirtschaftlich strukturiert ist, zumindest, wenn die Fläche nicht von der immerhin 40 km langen Kalksteppe Stora Alvaret beherrscht wird. Hier soll es Pflanzenarten geben, die sowohl die Eiszeit als auch die nacheiszeitliche Wärmeperiode überstanden haben. Im Norden steht die Schloßruine Borgholm. Feines Teil.
Nicht daß wir uns vor Beginn der Tour ausdrücklich die Erforschung schwedischer Wald- oder Gesteinsformationen oder eiszeitlicher Überreste auf die Fahnen geschrieben hätten. Aber man kommt an diesem Thema schlicht nicht vorbei. Das zeigt sich insbesondere auf dem Weg nach Västervik. Dieser ist bergig und stark bewaldet und wenn man die Seen nicht gerade überquert, blitzen sie immer wieder am Straßenrand durch. So stellt sicvh der Weg zur attraktiven Schärenlandschaft um Västervik dar. Västervik sagt von sich, die schönsten Schären Schwedens zu haben. Eine überzeugende und Eigenwerbung.
Ein kurzer Ausflug unmittelbar vor dem Ende des Urlaubs geht nach Eksjö. Die dortige Altstadt hat sich für unseren Besuch herausgeputzt und erhält hierzu strahlende Begleitung von der Sonne. Die Sonne hat sich also nur gestern etwas versteckt. Eksjö ist Romantik pur: ein kleiner Bach schlängelt sich um die Häuser, die schwedischen Holzhäuser säumen die Gassen in den unterschiedlichsten Farben, die Hinterhöfe strahlen um die Wette. Abgerundet wird das Bild von zwei kleinen aber feinen Kirchen. Vollgesogen von diesen Eindrücken kehren wir in ein Restaurant ein, das – wie kann es auch anders sein – eine einladende Terrasse am Bächlein hat und zusätzlich mit einem Blick auf eine harmonisch ins Gesamtgefüge eingepaßte Brücke zu begeistern weiß. Durch Zufall entdecke ich beim abendlichen Durchstreifen von Vimmerby auch noch das hiesige Fußballstadion, Vimarvallen genannt.
Die Fähre startet erst am Nachmittag, so daß die Rückfahrt über Ystad gelegt wird. Eine gute Stunde haben wir Zeit für das lebendige Hafenstädtchen und vor allem für Kommissar Wallander.
Fazit: Urlaub ist immer zu kurz, aber das ist allgemein bekannt und liegt in der Natur der Sache. Småland war dringend notwendiger und erwartungsübertreffender Erholungsurlaub mit Lerneffekten in großartiger Natur und Ruhe. Die unendlich vielen Grüntöne zu differnzieren, ist eine noch nicht bewältigte Herausforderung. Ähnlich der Grönländer, die ca. 100 verschiedene Worte für die verschiedenen Arten von Schnee haben sollen, dürften die Schweden in Bezug auf Grün einen erweiterten Wortschatz haben. Auch der Hobbygeologe oder sämtliche Steineklopfer dieser Welt dürften hier ihre helle Freude haben, ich jedenfalls hatte sie.